Vorwort zum Buch “Das Internet gehört uns allen”

Von article19 stammt das schön illustrierte Buch How the Internet Really Works Die deutsche Übersetzung Das Internet gehört uns allen ist nun im dpunkt-Verlag erschienen. ich durfte das Vorwort beisteuern.

In meiner Kindheit wurden Sprüche wie »Wofür brauche ich Differenzialrechnung, ich will doch Architektin werden!« oder »Was soll ich mit Englisch? Ich will in Deutschland bleiben!« herangezogen, um die vermeintliche Untauglichkeit des Unterrichts für die individuelle Zukunft zu illustrieren. Gern würde ich heute fragen, wie es diesen Kindern denn in der globalisierten Welt ergangen ist. Von manchen Eltern höre ich auch heute noch ähnliche Argumentationen, wenn ich für zum Beispiel für das Pflichtfach Informatik plädiere: »Nicht jede muss Computer-Crack werden! Vielleicht will meine Tochter ja mit Holz arbeiten!«

Natürlich wird nicht alles in der Schule Gelehrte (und auch nicht der weitaus kleinere Teil des tatsächlich Gelernten) für alle Menschen in ihrer beruflichen Zukunft relevant. Das ist jedoch auch nicht das Ziel von Bildung. Sie soll Heranwachsende zu mündigen Bürgerinnen gedeihen lassen, ihnen Basis-Kompetenzen für die gesellschaftliche Teilhabe vermitteln. Wenn dabei sogar noch kapitalistisch verwertbare Kompetenzen entstehen, freut sich die Wirtschaft. Wenn nur noch kapitalistisch verwertbare Kompetenzen entstehen, leidet die Demokratie.

In den Achtzigerjahren geboren, zähle ich mich wohl zur letzten Generation, die den Siegeszug des Heimcomputers hautnah miterleben durfte. Wenn auch dunkel, erinnere ich mich an eine Zeit mit PC ohne Internetanschluss. Wenn ich mich ganz besonders anstrenge, sehe ich sogar dunkle Bilder eines Lebens ohne eigenen PC. Heute werde nicht nur ich nervös, wenn ich in einem der vielen deutschen Funklöcher bin, oder der Akku meines Smartphones zur Neige geht. Das Internet ist zum allseits präsenten Medium für alles geworden: Kein Aspekt menschlichen Miteinanders wird nicht darin abgebildet, viele sogar vollständig absorbiert.

Unsere Kinder wachsen mit leuchtenden, kabellosen Brettchen auf, auf denen bunte Bilder zu sehen sind. Muss sie überhaupt interessieren, woher diese Bilder kommen? Kann es ihnen nicht genauso egal sein, wie es ihnen egal ist, woher das Wasser aus der Wand kommt? Oder der Strom aus der Steckdose?

Schön wäre es! Aber eine digitale Welt wird nur von denen gestaltet, die sie verstanden haben und deshalb auch gestalten können. Der Rest bleibt leider ohne Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten: Vorgesetztes wird als gegeben hingenommen und die Vorstellungen davon, ob und wie etwas anders sein könnte, schwinden. Ein digitales Grundverständnis ist also im Zeitalter der Digitalisierung alles andere als optional.

Leider scheint unsere Bildungspolitik sich aber seit Jahrzehnten darauf zu beschränken, die Existenz von Computern und Internet so lange wie möglich vor Kindern geheim zu halten. Statt Medienkompetenz zu schulen, wird das Nutzen von Wikipedia geächtet. Statt den mündigen Umgang mit sozialen Netzwerken zu schulen, werden Kinder mit Cyber-Mobbing, Account-Diebstahl und sogar sogenanntem »Grooming« allein gelassen. Das Schlimmste aber ist: Während all das geschieht, wachsen sie in einer Welt auf, in der Computerprimär als Konsumgeräte gesehen, vermarktet und behandelt werden. Das große kreative Potenzial bleibt den meisten Heranwachsenden vorenthalten.

Potenziale, die der Mehrheit vorenthalten sind, werden zu den Machtinstrumenten einiger weniger: »Das ist so, das haben wir hier schon immer so gemacht! Was du dir da vorstellst, ist Unsinn! So funktioniert das nicht!« Kennen Sie derartige Sprüche vielleicht aus den Diskussionen mit Ihrer IT-Abteilung? Stellen Sie sich vor, hier wäre nicht vom Drucker die Rede, sondern von der Gestaltung des öffentlichen Lebens! Es mag pathetisch klingen, aber in einer solchen Welt stehen die Grundwerte der Aufklärung schnell auf dem Spiel.

Das vorliegende Buch hat nichts Geringeres zum Ziel, als diese Werte zu retten und den Kompetenzgrundstein für eine demokratische, resiliente und zukunftsfähige digitale Gesellschaft zu legen: Natürlich muss nicht jede ein Computer-Crack werden – das ist auch nicht der Anspruch dieses Buchs. Das Buch will nur die Computer-Cracks so weit entzaubern, dass alle wieder mitreden können.

Und das ist unerlässlich.

Linus Neumann, Chaos Computer Club