Was die Corona-Warn-App braucht und was nicht.

Gestern habe ich auf eine Presseanfrage der Rheinischen Post geantwortet. Weil ich mich in dem daraus entstandenen Artikel und der Argenturmeldung nicht wirklich adäquat wiedergegeben fühle, veröffentliche ich meine Antworten für Interessierte im Volltext.

Hat sich die App aus Ihrer Sicht als effektiver Beitrag in der Pandemiebewältigung erwiesen?

Die Wirksamkeit der App ist primär begrenzt durch die Anzahl der Nutzenden. Wenn nur 1/4 der Menschen die App nutzen, kann auch nur 1/4 der Infizierten ihre Kontakte warnen. Von den Kontakten nutzen aber wiederum nur 1/4 die App, so dass nur 1/16(!) der Risiko-Begegnungen überhaupt von der App abgedeckt werden.

Weitere Limitationen ergeben sich aus der Ungenauigkeit der Bluetooth-Messung. Hierbei ist jedoch festzuhalten, dass diese Messmethode genauer als jede andere zur Verfügung stehende Methode – insbesondere GPS – ist.

Das meiste Verbesserungspotenzial hat die App durch eine schnellere und einfachere Meldung. Die hohe Abbruchquote bei der Meldung ist das größte Manko der App.

Was die App braucht, sind an erster Stelle mehr Nutzerinnen. Wer nun wie Friedrich Merz oder Boris Palmer eine Vollüberwachung fordert, senkt das Vertrauen in die App und damit auch die Nutzungszahlen. Eine Vollüberwachung würde nicht besser funktionieren – erst recht nicht, wenn keiner mitmacht.

Sollten die Funktionen ausgebaut oder erweitert werden? Wenn ja, welche?

Was fehlt und was wir seit langem fordern, ist die Erweiterung um die Erfassung von Clustern. Diese habe ich zum Beispiel hier erklärt: https://linus-neumann.de/2020/10/die-corona-warn-app-verliert-den-anschluss/

Es ist absolut unverständlich, dass diese Funktion nicht nachgerüstet wurde. Diese Lücke wird nun von einer Vielzahl teils wenig vertrauenserweckender privatwirtschaftlicher Anbieter gefüllt.

Nun werden Rufe danach lauter, dass im Sinne des effektiveren Gesundheitsschutzes und der besseren Infektionsnachverfolgung Abstriche beim Datenschutz gemacht werden sollten. Wie stehen Sie dazu?

Die Schwächen der App liegen in der komplizierten und langsamen Warnung. An keiner Stelle steht Datenschutz der Funktionsweise der App entgegen – mit mehr oder weniger Datenschutz würde sie genau so gut oder schlecht funktionieren, keinesfalls aber besser.

Diejenigen, die behaupten, der Datenschutz stünde der App im Wege, argumentieren anhand nachweislich falscher Tatsachenbehauptungen: https://linus-neumann.de/2020/12/corona-und-datenschutz-julian-nida-rumelin-verdreht-noch-mehr-tatsachen-als-ich-zunachst-dachte/

Eine Erfassung des Aufenthaltsortes hätte keinerlei zusätzlichen Nutzen für Gesundheitsämter, deren Aufgabe die Alarmierung potenzieller Kontakte ist. Das macht die App jetzt schon schneller als die überlasteten Gesundheitsämter. Bei einer Inzidenz nördlich der 20.000 sind alle Bemühungen zum Contact Tracing ohnehin vergebene Liebesmüh: Deshalb haben die Gesundheitsämter ja auch längst resigniert. Mehr Daten würden ihnen jetzt auch nicht mehr helfen.

Hat sich die App-Entwicklung und die von der Bundesregierung investierten Millionen aus Ihrer Sicht gelohnt?

Die Kosten für die App sind enorm hoch. Eine nennenswerte Weiterentwicklung hat nicht stattgefunden. Insbesondere sinnvolle Funktionen wie eine Cluster-Erfassung wären zu dem Preis durchaus zu erwarten gewesen.

Stattdessen wird nun das Feld halbseidenen privatwirtschaftlichen Unternehmen überlassen, sowie ein paar fachfremden Schreihälsen, die vollständig faktenfremde Aussagen über Asien herbei fantasieren.

2021-01-14 Update: In diesem Kontext würde ich gern noch diesen Artikel von Anna Müllner über ihre ernüchternden Erfahrungen mit SARSCoV2 empfehlen. Auszüge:

Als ich mein positives Ergebnis erhielt, kam es per SMS. Ich hatte jedoch auch mit der Corona-Warn-App mein Ergebnis gescannt. Das Ergebnis kam in der App nicht an. Ich wartete zwei Tage, ohne Erfolg. […] Als ich mein Ergebnis endlich via App geteilt hatte und hoffentlich alle, denen ich begegnet war, mitteilte, dass sie ein erhöhtes Risiko hatten, waren schon mindestens 6 Tage seit der Infektion vergangen.
Hier geht es zum Artikel von Anna Müllner.