Corona und Datenschutz: Julian Nida-Rümelin verdreht noch mehr Tatsachen, als ich zunächst dachte.

Bei “Anne Will” vom 13. Dezember 2020 stellte der Philosoph Julian Nida-Rümelin eine Reihe schwer haltbarer Tatsachenbehauptungen auf. Für eine informierte Debatte mitten in der zweiten Welle einer tödlichen Pandemie ist das fatal.

In der aktuellen Folge unseres Podcasts Logbuch:Netzpolitik haben wir die Journalistin Katharin Tai zu Gast, die sich gerade in Taiwan aufhält. Erstaunt stellten wir fest: Vieles, das in Deutschland medial als Tatsache rauf und runter gebetet wird, entspricht einfach nicht den Tatsachen: LNP374 Ein alter weißer Mann ist passiert.

Dies nahm ich zum Anlass, auch mal dem Rest der Behauptungen hinterher zu recherchieren, die Julian Nida-Rümelin in der Sendung aufgestellt hat.

Effektivität von Lockdowns ist (leider) evident

Erste unsinnige Behauptung: “Allgemeine Maßnahmen” [wie ein Lockdown] seien “nicht sehr effektiv” und würden zum Teil das Infektionsgeschehen “in die Höhe” treiben, weil sich Familien in Ihren Wohnungen gegenseitig anstecken würden.

Tatsache ist: Allgemeine und kompromisslose Maßnahmen haben all jene Länder gemein, die erfolgreich mitunter seit Monaten zero covid feiern. Dieses Ziel wurde in keinem Land der Erde auf anderem Weg erreicht.

Anmerkung: Was natürlich nicht effektiv sind, sind halbherzige Maßnahmen, wie sie in Deutschland nun zweimal in Folge ergriffen wurden. Diese führen in der Tat zu einem gegenteiligen Effekt, wie mein Kollege Tim Pritlove kürzlich schön zusammenfasste. Das ist es aber nicht, was Philosoph Nida-Rümelin kritisiert.

Mir persönlich scheint inzwischen (leider) offensichtlich zu sein: Das einzige, was noch schlimmer ist als ein harter Lockdown, ist ein halbherziger Lockdown.

“Taiwan, Japan, Südkorea” und ein deutscher Philosoph

Zweite unsinnige Behauptung: In Südkorea, Taiwan und Japan gäbe es “ortsbasiertes Contact Tracking” [sic!] und dieses sei für den Erfolg verantwortlich. “Den Datenschutz” macht Nida-Rümelin dafür verantwortlich, dass Deutschland keine nachhaltige Strategie im Umgang mit der Pandemie habe.

In dieser Behauptung stecken so viele Fehlannahmen, dass es schwer ist, sie alle einzeln zu widerlegen. Beginnen wir daher mit einfach zu widerlegenden Fakten.

Tatsache ist: Taiwan nutzt gar keine Contact Tracing App, Japan nutzt die gleiche Corona-App wie Deutschland und auch Südkorea kann nicht als Beispiel herhalten.

Taiwan nutzt gar keine Contact Tracing App

Entgegen der Behauptung des Philosophen hat Taiwan keine GPS-basierte Contact Tracing-App. Noch besser: Taiwan hat GAR KEINE Contact Tracing App, sondern ein modernes System für das Management der Kontaktverfolgung bei den Gesundheitsämtern. Was Taiwan ansonsten tatsächlich hat, ist eine Überwachung der Quarantäne, in die sich Einreisende und Kontakte von Infizierten begeben müssen. Diese basiert jedoch nicht auf einer App und nicht auf GPS und hat auch mit Contact Tracing nichts zu tun.
In Taiwan wurden viele Maßnahmen probiert – eine Contact Tracing App ist dort heute nicht verbreitet und hat somit auch keinen Anteil am Erfolg.

Japan nutzt die gleiche Corona-App wie Deutschland

Japan hat eine Bluetooth-basierte Contact Tracing App. Diese App funktioniert exakt genau so wie die deutsche Corona-Warn-App und nutzt exakt das gleiche Google/Apple-Exposure Notification Framework. Das Framework verbietet die Nutzung von Lokationsdaten.

Auch Südkorea kann nicht als Beispiel herhalten

Die Südkoreanische App dient ebenfalls der Quarantäne-Überwachung und nicht dem Contact Tracing. Sie hatte Ende Juli ein schweres Datenleck und Südkorea kämpft gerade mit der zweiten Welle. Einen Ausbruch im August hat Korea hingegen unter Kontrolle gebracht – mit einem Lockdown.
Auch dieser “Erfolg” kann also nicht als argumentative Grundlage dienen für das, was Nida-Rümelin behauptet.

Fazit: Die Tatsachenbehauptungen, auf die der Philosoph Julian Nida-Rühmelin seine Argumentation stützt, entbehren jedem Bezug zur Realität.

Ich gebe zu, dass auch ich diese Behauptungen zunächst nicht infrage gestellt habe, weil ich davon ausgegangen bin, dass die Redaktion der Sendung “Anne Will” ihre Gäste zumindest einem groben Fact– und Sanity-Check unterzöge.

Die Probleme, von denen Nida-Rümelin ablenkt.

Dritte unsinnige Behauptung: “Der Datenschutz”

Tatsache ist: In Deutschland sind die Gesundheitsämter überlastet. Zur Zeit haben wir täglich 30.000 neue Fälle und über 900 neue Tote. Anstrengungen zum Contact Tracing, egal welcher Art, werden in dieser Situation nicht mehr helfen können und wurden inzwischen vielerorts mehr oder weniger aufgegeben. Unsere Gesundheitsämter agieren mit Faxgeräten und dem RKI wurden 4 neue Stellen von 68 benötigten Stellen gewährt. Nach einem “Lockdown Light” befinden wir uns nun in einem “Lockdown Medium Rare”, der ebenfalls nicht geeignet sein wird, die Infektionszahlen in einen kontrollierbaren Bereich zu bringen.

Wir benötigen Maßnahmen, die 1. das allgemeine Infektionsgeschehen senken und 2. Menschen schneller alarmieren, damit sie nicht mehr Menschen anstecken. Vorschläge für das zweite Problem habe ich bereits an anderer Stelle gemacht und diese auch mehrmals wiederholt. Contact Tracing ist ein Luxus, den man sich leisten kann, wenn das Infektionsgeschehen so niedrig ist, dass zero covid erreichbar scheint. Der Weg dorthin ist bekannt und hat mit Datenschutz wenig zu tun.

Wer behaupten möchte, der Datenschutz sei an dieser Situation schuld, müsste diese Aussage belegen – auch wenn er nur ein Philosoph ist.

Allen, die sich hingegen wirklich dafür interessieren, wie Taiwan es tatsächlich geschafft hat, empfehle ich unser Gespräch mit Kathatin Tai: LNP374 Ein alter weißer Mann ist passiert.